Die Sache mit Tamiflu, oder: Warum schlechte Wissenschaft nicht nur «Alternativmedizin» betrifft

Marko KovicSkeptiker-Blog2 Comments

Am 26. Januar hat Tagesanzeiger-Online über die jüngsten Entwicklungen im Falle des Medikamentes Tamiflu berichtet:

Tagi_Tamiflu

Wer mit dem Fall nicht vertraut ist, mag sich fragen, ob hier ein Fall krasser journalistischer Inkompetenz vorliegt: Für die behauptete Wirksamkeit des Medikamentes Tamiflu, welches der Schweizer Firma Roche zu Milliardenumsätzen nicht zuletzt im Zuge der Vogelgrippe- und Schweinegrippe-Pandemien verholfen hat, sollen keine genügenden Beweise vorliegen? Das muss in irgendeiner Form ein grober Fehler oder übler Scherz sein? Leider nein.

Tamiflu und die Phantomstudien

Das Medikament Tamiflu wird von der Firma Hoffmann-La Roche mit Sitz in Basel, Schweiz vertrieben. Tamiflu ist ein sogenannter Neuraminidase-Hemmer, der die Ausbreitung des Influenza-Virus hemmen bzw. stoppen soll. Die Forschung an Oseltamivir begann in den 199er Jahren, und wurde unter dem Markennamen Tamiflu ab 1999 zugelassen. Dies, weil die Ergebnisse der klinischen Untersuchungen die Wirksamkeit von Tamiflu bei der Bekämpfung der Verbreitung des Influenza-Virus zu belegen schienen.

2009 veröffentlichte die Cochrane Collaboration, ein Netz von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern für das Erstellen aufwendiger systematischer Reviews, eine Metaanalyse zur Wirksamkeit von zwei Neuraminidase-Hemmern (Oseltamivir und Zanamivir). Die Untersuchung kam zu folgendem Fazit:

Paucity of good data has undermined previous findings for oseltamivir’s prevention of complications from influenza. Independent randomised trials to resolve these uncertainties are needed.

Diese Metastudie von 2009 ist eine Replikation einer bereits 2005 von der Cochrane Collaboration veröffentlichten Studie, welche zu deutlich besseren Ergebnissen kam. Die Cochrane Collaboration sah sich gezwungen, die 2009 die Untersuchung zu wiederholen, weil die Datenlage unbefriedigend war:

Data on the effectiveness of oseltamivir against the complications of influenza are confusing. Hayashi pointed out that the original data, which led to the 2005 version of this original Cochrane review reporting benefits for oseltamivir on reduction of complications from lower respiratory tract infection, principally came from one meta-analysis that summarised 10 trials containing a mixture of published and unpublished data. Only two of the trials it contains are published (and are reported in this Cochrane review update), the remainder were offered to us under conditions we thought unacceptable, and what was offered to us was insufficient to analyse properly. (Comments on the Kaiser et al paper are in the web extra). This means we are now obliged to exclude the meta-analysis. The remaining published evidence is insufficient to answer the question about the effectiveness of either neuraminidase inhibitor on reducing the complications of lower respiratory tract infection, antibiotic use, or admissions to hospital. It is possible that there is a publication bias, especially as we know of eight trials that are unpublished and inaccessible. We have not undertaken a funnel plot because there are only three trials (fig 6), and so the issue of publication bias remains unresolved. Its direction might be in favour of exaggerating the treatment effect. Hayashi’s comments point out a serious problem with our original review, which we now address.

Die Studie von 2005 bezog sich auch eine Metaanalyse, welche 10 Studien untersuchte, von denen 8 unveröffentlicht waren. Um diese unüberprüfbaren Daten korrigiert, ist die Wirksamkeit von Tamiflu deutlich geringer, als von Roche behauptet. Eine weitere Untersuchung von 2012, welche Dokumentation von Roche an Regulierungsbehörden und die Kommentare der Regulierungsbehörden untersucht, kommt zu demselben Schluss wie die Untersuchung von 2009: Ein Effekt für die Wirksamkeit von Tamiflu gegen die Symptome von Grippe wird gestützt, es können aufgrund der vorhandenen Datenlage aber nach wie vor keine Aussagen zu Effekten auf die Verbreitung des Influenza-Virus sowie auf Komplikationen gemacht werden:

The evidence supports a direct oseltamivir mechanism of action on symptoms but we are unable to draw conclusions about its effect on complications or transmission.

Das British Medical Journal hat nun den Briefwechsel mit Roche offengelegt. In einer ansehnlichen Grafik ist zudem die Chronologie der Ereignisse aufgelistet.

Fazit

Ab und an mag der Eindruck entstehen, Skeptikerinnen und Skeptiker schiessten sich nur auf  «Alternativmedizin» ein und ignorierten Probleme in weniger anrüchigen Forschungsgebieten. Dem ist nicht so: Für medizinische Forschung müssen einheitliche Standards der Prüfung vermuteter Wirkungen eingehalten werden. Es gibt demgemäss auch keine Kategorien wie «Schulmedizin», «Alternativmedizin», «Komplementärmedizin», sondern nur Mittel und Verfahren, deren medizinische Wirksamkeit aufgrund der verfügbaren Datenlage gestützt ist, sowie Mittel und Verfahren, deren medizinische Wirksamkeit ungestützt oder gar widerlegt ist.

Dass skeptisches Einfordern evidenzasierter Medizin alle Bereiche der Medizin betrifft, demonstriert nicht zuletzt Ben Goldacre, Autor sohwol von «Bad Science» als auch von «Bad Pharma».

Autor

2 Comments on “Die Sache mit Tamiflu, oder: Warum schlechte Wissenschaft nicht nur «Alternativmedizin» betrifft”

  1. Pingback: «Wer heilt, hat Recht»: Eine kleine Streitschrift

  2. Pingback: Eine Typologie der Negativkommentare zur 10:23-«Überdosis» | Skeptiker Schweiz

Kommentar schreiben