Wie hat es die Politik mit der Wissenschaft?

Marko KovicBlog, Skeptiker-Blog4 Comments

Am 5. Mai hat die NZZ am Sonntag einen Artikel mit dem etwas gar langen Titel «Die Politik muss sich nicht immer nach den Erkenntnissen der Wissenschaft richten, sie darf die Forscher aber nicht zu blossen Hampelmännernmachen» veröffentlicht.

NZZaS Politik und Wissenschaft

Der Artikel ist lesenswerter, als der gigantös geratene Titel andeutet. Der Autor plädiert dafür, dass Wissenschaft «neutral» forschen, also eben Wissen schaffen, solle, und dabei zu vermeiden hat, aus den gewonnenen Ergebnissen politische Forderungen herauszulesen und zu verkünden. Das politische Personal andererseits soll Forschung nicht für eigene Zwecke usurpieren, um Partikularinteressen den Anstrich des wissenschaftlichen Plazets zu geben.

In diesem Sinne ist auch die Schlusspointe des Artikels gedacht:

Es ist so sicher wie das Amen in der Kirche, dass sich die Wirksamkeit der Homöopathie auch in vier Jahren wissenschaftlich nicht beweisen lässt.

Es wäre deshalb ehrlicher, wenn die Politiker schon heute sagen würden: Die Menschen wollen die Homöopathie trotzdem, deshalb sind wir bereit, sie zu finanzieren.

Der Autor, so meine Lesart, ist nicht etwa dafür, Wissenschaft der Beliebigkeit preiszugeben, sondern er fordert, dass politische Bestrebungen nicht in einen (fingierten) Mantel der wissenschaftlichen Objektivität gehüllt werden sollen.

So weit, so gut. Leider wird im Artikel versäumt, genauer zu unterscheiden, was in die Domäne der Politik und was in jene der Wissenschaft fällt. Eine etwas explizitere Unterscheidung kann hilfreich sein, das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Politik zu entschärfen, oder zumindest heikle Fälle der Vermengung von Wissenschaft und Politik besser zu erkennen.

Was ist eigentlich Politik?

Als Politikwissenschaftler glänzen mir natürlich die Augen, wenn ich darüber sinnieren darf, was Politik eigentlich ist, und wie sie funktioniert (wir Politikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler cachieren unsere schlechten Mathematikkenntnisse mit intellektueller Überlegenheit, welche es uns erlaubt, über die «grossen», die «wesentlichen» Dinge zu spekulieren und zu belehren). Der Begriff «Politik» gehört zu jenen Dingen, welche so allgegenwärtig sind, dass wir oft nicht versuchen, präzise zu bestimmen, was sie eigentlich bedeuten. In der Regel verstehen wir unter Politik bestimmte auffällige Ausprägungen und Eigenschaften ebendieser: Politikerinnen und Politiker im Parlament, die Politikerinnen und Politiker in Regierungen, Wahlen, Abstimmungen. Ewas umfassender kann Politik in einer recht eleganten Minimaldefinition folgendermassen beschrieben werden:

Politik ist jenes menschliche Handeln, welches allgemeingültige Regeln herstellt.

Diese Definition ist banal, aber beschreibt das Wesentliche: Politik bedeutet, dass Regeln gesetzt werden, welche für eine Gruppe von Menschen gelten. Wenn also schon innerhalb einer Familie bestimmt wird, wann ein Kind zu Bett gehen soll, wird Politik betrieben. Das bedeutet natürlich noch nicht, dass jede Form der Politik als demokratische Politik gelten kann; eine im weitesten Sinn demokratische Politik wäre dann vorhanden, wenn jene Menschen, welche sich Regeln fügen, auch gleichzeitig die Autorinnen und Autoren dieser Regeln sind.

Der wesentliche Punkt ist, dass Politik ein Handeln bedeutet, welches Normen produziert. Politik stellt also Regeln her, welche unser soziales Miteinander steuern (je nach Perspektive: ermöglichen oder begrenzen). Politik ist also nichts anderes als der Streit um die Definition des Sollen. Was Politik nicht ist: Ein Streit um die Definition des Sein. Das ist ein Streit, auf welchen sich Wissenschaft spezialisiert hat.

Diese Trennung nach Fragen des normativen als Aufgabe der Politik und Fragen des Objektiven als Aufgabe der Wissenschaft ist natürlich nicht absolut. Natürlich darf eine jede und ein jeder in einen Diskurs über objektive Wahrheit wie auch über normative Richtigkeit treten – als vernunftbegabte Menschen sind wir alle zu rationalen Diskursen fähig. Die Arbeitsteilung zwischen Wissenschaft und Politik besagt schlicht, dass Wissenschaft die Expertise in Fragen des Sein hat, und Politik das Sollen behandelt. Das gilt auch für Fälle wie praktische Philosophie, wo systematisch untersucht wird, welche Normen warum als rational akzeptabel gelten können, aber nicht mit dem Ziel, diese Normen direkt politisch umzusetzen.

Diese letztlich simple Überlegung der Wissenschaft als Sein und der Politik als Sollen hilft, beide Arten von Handeln voneinander zu entflechten. Wie der Artikel aus der NZZ am Sonntag richtigerweise beschreibt, kommt es vor, das Forscherinnen und Forscher ihre Forschungsergebnisse, also das Sein, Interpretieren als direkte Handlungsanleitung, also ein Sollen. Ein solcher Kurzschluss darf nicht geschehen, weil dies letztlich die Forschung selber suspekt macht – wir sind schliesslich alle potentielle Opfer eines Confirmation Bias, und die Gefahr besteht, dass grosser politischer Wille die Ergebnisse von Forschung korrumpiert. Im gleichen Atemzug ist höchste Obacht vor Politik angebracht, welche sich mit dem Feigenblatt der Wissenschaftlichkeit zu schmücken versucht, um Normen zu rechtfertigen, welche ansonsten wenig rational sind (Dummes Beispiel: Der administrative Aufwand bei Demokratie ist recht hoch und teuer, und wir können enorm viel einsparen, wenn wir meine Wenigkeit zum totalen Alleinherrscher erklären.).

Aus Fakten folgen nie automatisch Normen: Dass bestimmte Fakten bestimmte Normen nach sich ziehen sollen, oder, dass es normativ wünschenswert sein soll, bestimmte faktische Zustände herzustellen, kann nicht «selbstverständlich» sein, sondern gehört explizit begründet (Im Alltag scheinen uns viele Zusammenhänge zwischen Fakten und Normen durchaus selbstverständlich, aber der Umstand, dass wir bei bestimmten Dingen ganz ähnliche subjektive Empfindungen haben ist nur die Illusion eines rationalen Einverständnisses.).

Beispiel Gentechnik bei Pflanzen

Im Artikel der NZZ am Sonntag wird die Situation gentechnisch veränderter Pflanzen in der Schweiz als Beispiel herangezogen. Das während mehreren Jahren durchgeführte nationale Forschungsprogramm NFP 59 «Nutzen und Risiken der Freisetzung gentechnisch veränderter Pflanzen» kam im Wesentlichen zum Ergebnis, dass der bestehende Forschungsstand den Schluss erlaube, gentechnisch veränderte Pflanzen seien kein gesundheitliches Risiko für den Menschen. Dennoch wurde das Moratorium für den Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen bis 2017 verlängert.

«Guter» oder «schlechter» politischer Diskurs?

Wenn die bestehende Forschung die Unbedenklichkeit gentechnisch veränderter Plfanzen demonstriert, und gleichzeitig ein Moratorium den Anbau ebensolcher Pflanzen verbietet, liegt kein Widerspruch vor: «GVO sind gesundheitlich ungefährlich.» beisst sich nicht mit «GVO sollen nicht angebaut werden.», da letzere Norm die faktische Korrektheit der ersten Aussage nicht in Frage stellt. Wenn aber die Norm begründet wird mit «GVO sollen nicht angebaut werden, weil sie gesundheitlich gefährlich sind.», liegt ein Problem vor.

Die Nationalrätin Yvonne Gilli hatte im Rahmen der Nationalrats-Abstimmung über die Verlängerung des Gentech-Moratoriums ein solches Argument vorgetragen:

Es ist nämlich nicht so, dass gentechnisch veränderte Pflanzen so unproblematisch sind, wie es beispielsweise das Nationale Forschungsprogramm 59 darstellt. Eine aktuelle französische Studie zeigt ein ganz anderes Bild. Sie belegt, dass die Langzeitfütterung mit Gentechmais bei Ratten zu Geschwüren, Organveränderungen und frühzeitigem Tod führt. Die Studie wurde in der renommierten Fachzeitschrift „Food and Chemical Toxicology“ publiziert und hat in der gesamten EU eine heftige Debatte ausgelöst. Wir sind also auf dem vorsichtigen Weg, wenn wir das bewährte Gentech-Moratorium nun verlängern.

Gilli bezog sich auf die wissenschaftlich diskreditierte Genmais-Studie unter Leitung von Gilles-Eric Séralini von 2012. Mit dem Verweis auf diese schon kurz nach ihrem Erscheinen von diversen Seiten kritisierte «Schock-Studie» versuchte die betroffene Nationalrätin, den Stand der Forschung in Frage zu stellen. Hierbei ist festzuhalten, dass es sich um einen Fall handelt, wo ein wissenschaftlicher Sachverhalt aus wissenschaftlicher Sicht kritisiert wird, was im Grunde durchaus erwünscht ist. Wohl hat Yvonne Gilli die besagte Studie strategisch zitiert, aber sie hat damit versucht, den Diskurs über das Objektive anzuregen, und nicht einfach den Stand der Forschung pauschal abzulehnen. Hier zeigt sich auch die Logik der funktionalen Differenzierung, d.h. der Arbeitsteilung, von Politik und Wissenschaft: In der betroffenen Nationalratsdebatte kann der wissenschaftliche Fachdiskurs nur sehr oberflächlich geführt werden, und ein ausserpolitischer Wissenskorpus als Grundlage für die politische Diskussion ist unabdingbar.

Argumente für oder wider das Gentech-Moratorium müssen die Frage des Risikos von GVO also nicht zwingend tangieren. Auf logischer Ebene widerspricht auch eine stark prozeduralistische Entscheidungsfindung zum Sollen (z.B. eine Mehrheitsabstimmung zum Gentech-Moratorium) nicht dem Stand des Sein (Es wird ja nicht abgestimmt, ob Gentech-Pflanzen für die Gesundheit schädlich sind oder nicht.).

Fazit

Der vorliegende Blogeintrag ist im Grunde überflüssig, aber manchmal schadet es nicht, Dinge, die uns selbstverständlich scheinen, explizit zu machen.

Politisches Handeln und wissenschaftliches Handeln suchen Antworten auf unterschiedliche Fragen: Politik setzt Spielregeln für das gesellschaftliche Miteinander, Wissenschaft sucht Fakten über die Welt. Dabei müssen durchaus Interaktionen hergestellt (z.B. wird über das Politische bestimmt, welche Arten des Wissenschaftlichen finanziert werden), aber krypto-normative Automatismen verhindert werden.

Dank an Walter Hehl für den Hinweis auf den NZZaS-Artikel.

Autor

4 Comments on “Wie hat es die Politik mit der Wissenschaft?”

  1. Die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen finde ich völlig richtig und treffend, denn sie sollte uns davor bewahren, den naturalistischen Fehlschluss zu begehen.
    Doch denke ich, dass es im politischen Korpus durchaus normative Regeln gibt, die aus bestimmten Fakten (halb-)automatisch neue normative Regeln generieren. Dies sind die zentralen Elemente in unserem Rechtssystem. Also dass das Leben geschützt werden soll, den Menschen eine weitesmöglche Freiheit gewährt werden soll, etc.
    Das heisst, dass aus der wissenschaftlichen Erkenntnis, dass überirdische Nuklearexplosionen in dichtbesiedelten Gegenden zu massiven Schäden an der Bevölkerung führen, relativ ohne Umschweife folgt, dass man solche Tests also da nicht machen sollte.
    Das Problem ist einfach, dass sobald man das Terrain der absurden Beispiele verlässt, die Sache nicht mehr so klar ist. Ich schätze, weil verschiedene solcher (Meta-)Regeln verschiedene, miteinander in Konflikt liegende Normen generieren können. Und genau hier muss man sich dann auch die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen bewusst machen.

    Ich habe mir zu diesem Artikel auch ein paar spätabendliche Gedanken gemacht, bin jedoch eher zum Schluss gekommen, dass es weniger der Zurückhaltung bedarf, sondern mehr der Aufklärung, was Wissenschaft ist, wie sie funktioniert und was man von ihren Ergebnissen erwarten darf.
    http://disorganizer.meskinaw.net/index.php?id=607&titel=Das_Verh%E4ltnis_zwischen_Politik_und_Wissenschaft

    1. Ciao Eda

      Danke für den Kommentar und den Link!

      Ich denke, dass auch krasse Beispiele wie das Zünden von Atombomben keine automatische Normativität haben kann und darf. Wir wissen, welche Schäden faktisch zu erwarten sind. Die Norm aber, dass wir solche Schäden nicht verursachen wollen (die ich unterstützen würde), oder die umgekehrte Norm, dass solche Schäden maximal gross verursacht werden sollen, widersprechen nicht dem faktischen Wissen ob der erwartbaren Schäden.

      Auch unsere Grundrechte sind nichts anderes als von Menschen gesetzte Normen. Zwar mögen diese auf z.B. Erkenntnisse der Biologie rekurrieren, sind aber letztlich auch in dieser Hinsicht willkürlich (z.B. beim Tabuthema Speziezismus; eine biologisch evolvierte Spezies diskriminiert alle anderen biologisch evolvierten Spezies auf der Welt).
      Einer der grösseren Fehlschlüsse auch im politischen Denken ist, dass unsere Grundrechte in irgendeiner Form „Naturrecht“ seien, also etwas, was unabhängig von der sozialen Realität existiert. Das ist ein recht eklatanter Widerspruch: Recht, also bestimmte Formen von Normen, existierr erst dadurch, dass wir es deklarieren und uns dadurch binden lassen.

      Gruess
      Marko

      1. Dass unserer Grundrechte in irgendeiner Form von uns unabhängig geltende Naturrechte seien, halte ich selbstverständlich auch für falsch. Ich denke da eher in die Richtung, dass es Meta-Rechte sind, die aus neuen Erkenntnissen „automatisch“ neue Gesetze machen. Und das explizit in unserem Auftrag.
        Oder liege ich da falsch? Ich will drauf hinaus, dass Gesetze nicht einfach einzeln gelten und legitimiert sein müssen, sondern im Korpus wirken und innerhalb dieses bisweilen nahezu undiskutierbare Mechanismen wirken.
        Wenn wir gewisse Gesetzesvorschläge als im Widerspruch zur Verfassung zurückweisen, dann ist das ja eine Art (halb-)automatische Ablehung von an sich legitimen Vorstössen aufgrund eines nicht nur akzeptierten, sondern auch gewollten Mechanismus, den wir über die Dinge gesetzt haben. Aber wie gesagt, dieser Mechanismus, also die Grundgesetze, ist diskutiertbar, wenn jedoch akzeptiert, sind dessen Ableitungen es eigentlich nicht mehr wirklich. Sprich, dass ich das konkrete Gesetz nur insofern hinterfragen kann, dass ich das übergeordnete Gesetz hinterfrage.

        1. Ah, doch doch, das sehe ich auch so: Wir haben in der Praxis unterschiedliche Abstraktionsgrade für Gesetze, und eher allgemeine Leitplanken reduzieren die Auswahl bei konkreteren „praxisorientierten“ Regeln (wie du es am Beispiel der Verfassung beschreibst).

          Dies scheint mir aber eine andere Frage als der Zusammenhang zwischen Normen und „objektiven“ Fakten. In dieser Frage sind derart halbautomatische Anpassungsmechanismen (egal, in welche Richtung) nicht angebracht, denke ich. Wenn solche Zusammenhänge zwischen Normen und Faken nicht offen und rational diskutiert und gerechtfertigt, sondern als „selbstverständlich“ hingenommen werden, geschieht eine gefährliche Verkürzung, würde ich meinen (auch, wenn im Einzelfall der emotionale Eindruck des Zusammenhanges erdrückend sein mag, etwa in der Frage des Zündens von Atombomben).

          Gruss

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