Du sollst nicht fluchen! Humbug des Monats 09-2016

Denis UfferBlog, Humbug des MonatsLeave a Comment

Humbug des Monats klein

Alle paar Jahre beschert uns die Wissenschaft bahnbrechende Erkenntnisse, die nur dank hochstehender journalistischer Leistungen – wie neulich in „20 Minuten“ 1 – der breiten Bevölkerung zwecks Erleuchtung unterbreitet werden können.

Worum geht’s? Der Wirtschaftsredaktion von 20 Minuten ist eine Studie untergekommen, die vielerorts im Internet für Furore gesorgt hat: Wer auf Twitter flucht, den holt der Teufel deutlich früher: mit einem Herzinfarkt. Das muss bei Kardiologen wie eine Bombe eingeschlagen haben: Denn gemäss 20 Minuten und gemäss Studienautoren2, wenn man in deren mit kryptischen Formulierungen bestückten Publikation nur das Abstract liest, könne man das Herzinfarktrisiko anhand des Fluchverhaltens und der Fluchmenge auf Twitter besser voraussagen als mit allen anderen, der Medizin seit Jahren bekannten und von ihr beforschten Risikofaktoren.

Voraussagen? Naja, vielleicht ein etwas grosszügiger Begriff, die Daten scheinen zumindest zu korrelieren. Und hiermit wird PUBLIZIERT! Hinterfragen kann man ja später noch – wenn man Lust dazu hat.3

Und was will man an einer solch soliden Studie denn hinterfragen? Schliesslich sind da Millionen (sic!) von Tweets durch einen Computeralgorithmus geschleust worden; man hat da Bezirksweise in den USA geschaut, wo von Juni 2009 bis März 2010 am meisten geflucht und an koronarer Herzkrankheit gelitten wurde und der Computer hat schliesslich eine Korrelation ausgeschieden. Und solche Korrelation gehört schliesslich als Studie publiziert!

Ob man sich der demographischen Verteilung der Twitternutzer und derer mit koronarer Herzkrankheit (KHK) bewusst ist? Wozu denn sollten sich die Studienautoren dafür rechtfertigen, dass je höher das Alter, umso höher das KHK-Risiko, umso kleiner aber die Wahrscheinlichkeit, dass man auf Twitter ist? Das würde doch nur von der wahren Korrelation (ääh, Prädiktion) der Studie ablenken, wenn man darauf hinwiese, dass z. B. in der Altersgruppe von 65+ nur 4% Ende 2009 auf Twitter war4, während das KHK-Risiko erst in jener Altersgruppe so richtig in die Höhe steigt!

Genauso wäre es doch unnötig, nach alternativen Erklärungen zu suchen, wie zum Beispiel, dass das Fluchen auf Twitter vielleicht eine Reaktion („S**t/F**k, my dad has had another heart attack!“) auf die Hospitalisation eines Nahestehenden sein könnte. Das würde ja die Twitter-Nutzer-Demographie erklären und letztlich die prädiktive (sic! sic! sic!) Aussagekraft der Studie unterminieren.

Und dann dieses blöde Wort, das die ganze Studie verzerrt: Nur wer auch aufmerksam die Fussnoten liest, merkt, dass das Wort “love” aus der Studienauswertung gestrichen wurde. Der Grund? Es korrelierte mit erhöhtem Risiko für KHK. Das war dann wohl für die Studienautoren doch etwas zu harter Tobak. Besser als kollektiv die Scheidung einzureichen, sich der Liebe zu entziehen um einer möglichen KHK vorzubeugen, wollten sie dann doch lieber in die kognitive Dissonanz flüchten und behaupten, dass die Verzerrung wohl daher rührt, dass niedrigere sozioökonomische Schichten (die tendenziell ein höheres KHK-Risiko haben), wohl einfach nicht richtig “lieben”. Nicht dass das eine arrogante Aussage wäre…

Und vielleicht zum Schluss noch: Kann mir jemand erklären, was das negative Smiley [ ); ] bei den „positiven Nachrichten“, die ein reduziertes KHK-Risiko voraussagen sollen, zu suchen hat? Oder was denn genau die positive Konnotation von „obstacles, endure, judgment“ sein soll?

Aber was macht denn 20 Minuten daraus? Sicherlich sind den dortigen Autoren die hier erwähnten Spitzfindigkeiten und Mängelchen (“Mangel” wäre schon etwas übertrieben) an der Studie aufgefallen? Fehlanzeige! Schliesslich muss man sich an die begrenzte Buchstabenmenge halten, um die 20 Sekunden Aufmerksamkeit des durchschnittlichen 20 Minuten-Blätterers nicht zur überfordern. Da sind Sinnbilder nützlicher, als lange Kommentare. Erwähnt wird nur noch, dass auch Swiss Re viel von dieser Studie hält (na super, dann weiss ich wenigstens, wessen Aktien ich in nächster Zukunft nicht kaufen werde!).

Eines fällt allerdings auf: in der unabdingbaren “Umfrage”, welche 20 Minuten seiner Leserschaft präsentierte, antwortete eine klare Mehrheit mit “Nein, so ein Quatsch!”. Wenn die eigenen Leserinnen und Leser den besseren Durchblick haben als die Redaktion, dann ist es vielleicht langsam Zeit, die eigenen Reihen kritisch zu hinterfragen…

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References

  1. «Wer auf Twitter flucht, gefährdet die Gesundheit», 20 Minuten, zugegriffen 6. Oktober 2016, http://www.20min.ch/finance/news/story/10284532.
  2. Johannes C. Eichstaedt u. a., «Psychological Language on Twitter Predicts County-Level Heart Disease Mortality», Psychological Science 26, 2: 159–69, doi:10.1177/0956797614557867.
  3. Für die Statistik-Verliebten: Ja, in der Studie wird mit sogenannten “out of sample predictions” gearbeitet, aber damit wird ein statistisches Modell letztlich auch nur anhand der aktuell vorhandenen Daten pseudo-vorausgesagt.
  4. Susannah Fox, Kathryn Zickuhr, und Aaron Smith, «Twitter and Status Updating, Fall 2009», Pew Research Center: Internet, Science & Tech, 21. http://www.pewinternet.org/2009/10/21/twitter-and-status-updating-fall-2009/.

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