Graphologie in der NZZ

Marko KovicBlog, Skeptiker-Blog2 Comments

Auch in Zeiten, in denen die meisten von uns viel mehr auf Tastaturen tippen als mit Stiften schreiben, bringen wir doch noch Vieles ohne elektronische Umwege direkt zu Papier. In einem am 12. Juni in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlichten Artikel wird argumentiert, nicht nur der Inhalt unserer hingekritzelten Worte sei von Belang, sondern auch die Form des Gekritzels selber, unsere Handschrift:

Graphologie NZZ

Wenn die NZZ einen Artikel veröffentlicht, in welchem die Lehre der Graphologie, also der Handschriftenanalyse zum Zwecke der Deutung von Persönlichkeitsmerkmalen der Schreibenden, als valides, wissenschaftliches Instrument dargestellt wird, lohnt sich eine kurze Analyse der im Text vorgetragenen Argumente. Was ist dran an Graphologie?

Was ist Graphologie?

Im Wikipedia-Eintrag zu Graphologie wird diese Lehre wie folgt definiert:

Die Graphologie auch Schriftpsychologie genannt, jedoch nicht unbedingt gleichbedeutend mit dieser, beschäftigt sich mit der Analyse der Handschrift von Individuen zum Zweck der psychologischen Diagnostik und Beratung.

Der Fachverband «Schule Verband Deutschsprachiger Graphologen» beschreibt die Bereiche, zu denen Graphologie Auskunft geben soll:

Was kann Graphologie

Der letzte Punkt, dass Graphologie Zeit und Kosten bei der Personalauswahl sparen soll, kann durchaus stimmen: Das Teuerste bei der Suche nach Personal ist die Abwesenheit einer Entscheidung. D.h., je mehr Zeit und Geld in die Suche nach Kandidatinnen und Kandidaten investiert werden, desto geringer ist der Grenznutzen (nicht immer, aber oft) bei der Besetzung der betroffenen Stelle. So gesehen ist jede Entscheidungsbeschleunigung, egal, ob Graphologie oder Kaffeesatzlesen, potentiell kostensparend, aber das sagt natürlich noch nichts darüber aus, ob die Behauptungen der Graphologie auch wirklich zutreffen oder nicht. Dieser Mechanismus kann aber miterklären, warum Graphologie in der Geschäftswelt immer noch zum Einsatz kommt.

Wie steht es nun aber um Graphologie an sich? Die Grundannahme dieser Lehre ist, so meine ich, nicht unplausibel: Die Handlung des Schreibens soll ein Indikator sein für unsere psychische Konstitution. Es scheint mir nicht unvernünftig, anzunehmen, dass das, was für unser Handeln im Allgemeinen zutrifft (dass nämlich unsere Handlungen, also bewusstes Verhalten, grundsätzlich Produkte unserer Psyche sind) auch Gültigkeit für die Handlung des Schreibens haben soll. Und in der Tat gibt es Fälle, in denen die Handschrift recht direkt Auskunft über die Persönlichkeit (oder in breiterem Sinne über die körperliche Verfassung) geben kann: Wer z.B. sehr langsam und mit sehr grossen Buchstaben schreibt, hat möglicherweise wenig Schreiberfahrung und also wenig schulische Bildung. Wer sehr unstet und zittrig schreibt, hat vielleicht Probleme mit Feinmotorik. Wer rosarote Tinte im Füllfederhalter hat, dem oder der gefällt wahrscheinlich die Farbe rosarot.

Der oben abgebildete Katalog an Persönlichkeitsmerkmalen tangiert aber viele sehr komplexe Eigenschaften, wo die Korrelationen mit der Handschrift weit weniger offenkundig sind. Das bedeutet nicht, dass sie nicht möglich sind, sondern, dass solche abstrakten Hypothesen durch empirische Forschung zu bestätigen sind. Tatsächlich spricht die Forschung eine recht eindeutige Sprache – jedoch zu Ungunsten der Graphologie.

In einer kritischen Übersicht der Forschung kommt die GWUP zum Schluss, dass die Ergebnisse nur einen Schluss zulassen:

In kontrollierten Tests hat sich die Methode als wertlos erwiesen. In der Handschrift eines Menschen spiegelt sich weder die Persönlichkeit, noch kann man mit graphologischen Gutachten beruflichen Erfolg vorhersagen.

Eine umfangreiche Literaturübersicht bei Quackwatch kommt zum selben Schluss, und attestiert der Graphologie die Kerneigenschaft von Pseudowissenschaft, Nicht-Falsifizierbarkeit:

In a word, they are unfalsifiable—nothing could possibly count against the theory. For instance, when graphologist Jane Paterson found that Ghandi failed to exhibit the large writing she said was typical of great leaders, she explained that his writing showed that he was modest and preferred to lead from a position of inferiority. Special pleading, after-the-fact, in place of firm, testable predictions—the pseudoscientist’s stock in trade.

Insgesamt ist die Validität der Graphologie wissenschaftlich also nicht gestützt. Dieses Umstandes ist sich durchaus auch der Autor des NZZ-Artikels bewusst, der von einer «Renaissance» einer «vergessenen Mehode» spricht: Gibt es neue Erkenntnisse zu einer Lehre, welche als widerlegt galt?

Argumente im NZZ-Artikel

Mit einer Reihe von Begründungen wird im NZZ-Artikel die angebliche Gültigkeit der Graphologie erklärt. Einleitend thematisiert der Autor die Gründe für die Abnahme der Nutzung von Graphologie, und beschreibt, dass die «akademische» Psychologie (gibt es eine andere?) heute mit ungeeigneten Werkzeugen operiere:

Anderseits distanziert sich die akademische Psychologie zunehmend von Theorien und Methoden, deren Qualität sich mit den heute gängigen wissenschaftlichen Prüfverfahren nicht eindeutig nachweisen lässt. Graphologie zählt zu den phänomenologisch-deutenden Methoden und ist mit dem modernen, statistischen Handwerkszeug schlecht überprüfbar.

Das ist typischer Jargon der Pseudowissenschaften: Das Problem ist nicht die betroffene Lehre, sondern die entartete Wissenschaft mit ihren lebensfernen Methoden. Das ist der gerne zur Anwendung kommende «special pleading»-Fehlschluss bei Fällen, in denen einzelne Anekdoten durch systematischere Daten entkräftet werden, wo wir also unsere subjektiven Eindrücke und Wahrnehmungen einer zuverlässigeren Prüfung unterziehen.

Ein weiteres Argument im NZZ-Artikel erstaunt:

Weil das Zustandekommen der Persönlichkeitsbeschreibung nicht objektiv nachvollziehbar ist bzw. die Nuancen einer Handschrift dem ungeübten Auge verborgen bleiben, erweckt die Graphologie bei Laien und Wissenschaftern den Verdacht der Hellseherei oder Esoterik.

Das Zustandekommen der graphologischen Persönlichkeitsbeschreibung sei nicht objektiv nachvollziehbar – weiter muss der NZZ-Artikel eigentlich nicht gelesen werden. Wir tun es trotzdem und sehen, dass eben doch gern auf «Studien» verwiesen wird (Phantomstudien, denn zitiert wird nichts):

Auch wenn Graphologie keine exakte Wissenschaft mit eindeutigen Wenn-dann-Beziehungen ist, hat sie sowohl in Studien als auch in der Praxis ihre Tauglichkeit bewiesen.

Graphologie ist keine «exakte Wissenschaft», hat aber ihre «Tauglichkeit» in Studien bewiesen. Man müsste nur wissen, was hier mit «Tauglichkeit» gemeint ist.

Diese eigenartige, sich widersprechende Argumentation wird fortgeführt. Zunächst schreibt der Autor, der Zusammenhang zwischen Handschrift und Persönlichkeitsmerkmalen sei durch «zahlreiche wissenschaftliche Studien» gestützt:

[…] die verschiedenen Merkmale der Handschrift lassen zuverlässige Rückschlüsse auf Persönlichkeitsaspekte wie Vitalität, kognitive Strukturen, Leistungsverhalten, soziale Kompetenzen oder psychische Stabilität zu. Zu diesem Schluss kommen zahlreiche wissenschaftliche Studien.

Man erinnere sich an die pauschale Ablehnung moderner psychologischer Forschung zu Beginn des NZZ-Artikels. Welche «zahlreichen» Studien können jetzt gemeint sein? Und wenn sie so zahlreich sind und die anderen Studien, welche gegen Graphologie sprechen, widerlegen, warum nicht auf sie verweisen?

Direkt an obigen Satz schliesst der Autor mit einer totalen Relativierung an:

Es liegt aber in der Natur der Sache, dass Persönlichkeitsbeschreibungen durch verschiedene schriftpsychologisch geschulte Personen unterschiedlich ausfallen, selbst wenn sie denselben Menschen betreffen und von diesem und seinen Bezugspersonen als zutreffend erachtet werden. Eine komplexe Struktur wie die der menschlichen Persönlichkeit lässt sich eben aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten und untersuchen.

«Zahlreiche Studien» belegen also die Gültigkeit der Graphologie, aber am Schluss werden Handschriften trotzdem immer unterschiedlich ausgewertet. Wie könnte es auch anders sein, ist doch die graphologische Persönlichkeitsbeschreibung, wie wir ein paar Zeilen zuvor im NZZ-Artikel erfahren haben, «nicht objektiv nachvollziehbar».

Fazit

Wer sich, wie ich, verwundert die Augen reibt, dass die NZZ einen solchen unkritischen Werbetext für eine pseudowissenschaftliche Lehre veröffentlicht (verfasst von einem Graphologen), findet vielleicht Trost im Umstand, dass der Artikel nicht im Wissenschaftsressort erschienen ist – aber handkehrum drängt sich die Frage auf, wie viel Kompetenz im Wirtschaftsressort vorhanden sein kann, wenn derlei Texte dort erscheinen. Oder sind der NZZ die paar Klicks von Google-Suchen nach Graphologie es wert, ihre Reputation als seriös recherchierende Zeitung aufs Spiel zu setzen?

Die Güte der Graphologie selber lässt sich indes leicht zusammenfassen, meine ich:

Humbug

Dank an Marcel Küchler für den Hinweis auf den NZZ-Artikel.

Autor

2 Comments on “Graphologie in der NZZ”

  1. Der Artikel gefällt mir. Der Zeitungsausriss mit den Versprechen, was Graphologie alles herauslesen könne, gemahnt an andere Eso-Heilsversprechen oder auch an die Physiognomik, an Handlesen etc. – ‚good old quackery‘ eben.

  2. Der Artikel war wirklich haarsträubend. Verfasst du einen Leserbrief an die NZZ Marko? Ich würde es sehr begrüssen, dort einen solchen zu sehen!

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