Spitzensport und Komplementärmedizin: Ein Dream-Team?

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Die olympischen Sommerspiele in Rio de Janeiro sind gegenwärtig in vollem Schwung, trotz einer Reihe organisatorischer Probleme bis kurz vor Beginn der Spiele1 2. Wie immer bieten die olympischen Spiele für jene, die sich für Sport interessieren, eine ganze Palette an Wettkämpfen auf höchstem Niveau.

Schon bald nach Beginn der Spiele ist Medienschaffenden aufgefallen, dass die Körper einer Reihe von Athletinnen und Athleten mit ein wenig sonderbare Punkten, oder Flecken, versehen sind. Darunter nicht zuletzt der US-amerikanische Schwimm-Superstar Michael Phelps, wie u.a. der Tages-Anzeiger berichtet:3

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Der Schwimmer Michael Phelps hat bei seinem Auftritt an den olympischen Spielen 2016 gut sichtbare Flecken auf der Schulter.

Bei den Flecken handelt es sich nicht um Trainingsverletzungen oder dergleichen, sondern um die Male des komplementärmedizinischen Heilverfahrens des «Schröpfens». Schröpfen ist ein Verfahren, bei welchem Behälter auf den Körper platziert werden, um mittels Unterdruck einen Saugeffekt zu erzeugen. Der Vorgang des Schröpfens sieht in der Regel ähnlich wie auf folgendem Bild aus:

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Es mag schmerzhaft anmuten, aber Schröpfen ist in der Regel ungefährlich. Bild: «Cups» von Avery (CC BY-ND 2.0).

Schröpfen wurde in mehreren Studien untersucht, und obwohl nicht alle der Studien eine hohe Güte aufweisen, ist die generelle Tendenz der Ergebnisse, dass Schröpfen am ehesten einen kurzfristigen analgetischen, schmerzlindernen Effekt haben kann4 5 6 7. Gemäss den Verfechtern des Schröpfens soll Schröpfen allerdings eine ganze Reihe weitreichender Wirkungen haben. Mit Schröpfen, so etwa der der Berufsverband TCM-SBO, «werden der Fluss von Qi, Blut, Lymphflüssigkeit und der Stoffwechsel angeregt und auch das Immunsystem wird gestärkt.»8.

Diese Episode mit Schröpfen ist nur eine Anekdote. Es gibt aber Hinweise, dass Alternativ- und Komplementärmedizin unter Spitzensportlern ganz generell beliebt und verbreitet ist9 10 11. Wie kommt das?

Nicht-wissenschaftliche Medizin und Spitzensport: Drei Thesen

These 1: Spitzensport ist ein Markt, welcher bewusst von komplementärmedizinischen Anbietern bespielt wird

In einer idealisierten Lesart ist Sport im Allgemeinen, Wettkampf-Sport im Besonderen ein Sinnbild für das Positive im Menschen und am menschlichen Miteinander. Athletinnen und Athleten arbeiten mit grosser Disziplin und eisernem Willen, um ihren Träumen Schritt für Schritt näher zu kommen. Dabei messen sie sich mit Gleichgesinnten auf eine faire und kooperative Art. Das übergeordnete Ziel ist dabei nicht, zu gewinnen, sondern aufzuzeigen, wozu wir alle in der Lage sind, und vor allem, dass wir dank Beharrlichkeit und harter Arbeit gemeinsam vorwarts kommen können.

Diese Form von Idealismus schwingt im Spitzensport zwar mit, aber Sport ist mindestens ebenso stark geprägt von einer starken Kommerzialisierung12: Sport ist zu grossen Teilen durch privatwirtschaftliche Marktlogiken geprägt – unterschiedliche Sportarten stellen unterschiedliche Märkte dar, mit denen sich Geld erwirtschaften lässt. Das ist für sich genommen nicht verwerflich.

Spitzensportlerinnen und -sportler üben, kommerziell gesehen, eine doppelte Funktion aus. Zum einen sind sie Abnehmer von Produkten und Dienstleistungen, bilden damit also einen Markt mit einer Nachfrage ab. Andererseits sind Spitzensportlerinnen und -sportler auch Werbeträger: Dadurch, dass sie öffentlich, direkt oder indirekt, Produkte und Dienstleistungen bewerben, erhoffen sich die Anbieter dieser Produkte und Dienstleistungen öffentliche Aufmerksamkeit und eine positive Konnotation. Letzeres ist ein typisches Beispiel für die kognitive Verzerrug des «Halo»-Effektes («Heiligenschein-Effekt»)13.

So ist es denn auch kein Wunder, dass komplementärmedizinisch-esoterische Produkte und Dienstleistungen, welche Leistungssteigerungen versprechen, immer wieder nicht nur den Weg in den Spitzensport finden, sondern ganz direkt auf diesen abzielen14. In einem kommerzialisierten Sportsystem mit Sportlerinnen und Sportlern als sowohl Abnehmern wie auch als Werbeträgern wäre es in diesem Sinne eher überraschend, kämen komplementärmedizinisch-esoterische Produkte und Dienstleistungen nicht vor.

These 2: Bei Sport kann der Placebo-Effekt besonders gut zur Geltung kommen

Spitzensport bedeutet, dass Menschen bis an ihre physikalisch-biologischen Grenzen gehen. Die Bandbreite im Hochleistungssport ist, logischerweise, eher eng. An Wettkämpfen wie den olympischen Spielen tritt nicht eine Zufallsstichprobe aus der gesamten Bevölkerung an, sondern die Besten der Besten. In einem solchen Hochleistungsumfeld können schon kleine Fluktuationen in der Tagesform grossen Einfluss auf das Ergebnis haben. Wenn, beispielsweise, eine Sprinterin an einem «schlechten Tag» eine halbe Sekunde langsamer ist als sonst, dann ist das, über die Gesamtbevölkerung, so gut wie unbedeutend langsamer. Im Kontext des Wettkampfes kann eine halbe Sekunde aber enorm viel ausmachen, denn dort treten nur die schnellsten der schnellen Sprinterinnen an.

So überrascht es nicht, dass der Placebo-Effekt eine grosse Rolle bei Sport spielt15 16: Einstellungen und Erwartungshaltungen können einen bedeutenden Einfluss auf die sportliche Leistung ausüben. Bei dieser Art von Placebo im Sport handelt es sich allerdings nicht um Placebo im engeren, medizinischen Sinn17, sondern um «Placebo» in einem metaphorischen, bildlichen Sinn.

Diese Placebo-Metapher im Sport ist aber dennoch nützlich, denn sie erklärt mit, warum Sportlerinnen und Sportler komplementärmedizinisch-esoterische Dienstleistungen und Produkte nutzen. Wenn diese, beispielsweise, Schröpfen awenden und dabei die Erwartungshaltung haben, dass Schröpfen wirkt, dann ist es sehr gut möglich, dass für sie dadurch ein tatsächlicher positiver Effekt entsteht: Ihre Selbstsicherheit nimmt zu, die Schmerzwahrnehmung nimmt ab, und, ganz allgemein, die Gedanken sind nicht auf negative Dinge fokussiert.

These 3: Komplementärmedizin ist die Hoffnung auf «legales Doping»

Spitzensport bedeutet, wie schon oben erwähnt, dass die Sportlerinnen und Sportler bis an die Grenzen dessen gehen, was sie biologisch leisten können. Wenn die Besten der Besten gegeneinander antreten, und das biologische Limit bereits erreicht ist, dann ist die Versuchung gross, mittels hormonal-chemischer Eingriffe dieses Limit zu überschreiten – Doping ist eine Realität des Hochleistungssports. Man mag nicht zuletzt in Anbetracht der Doping-Problematik auch im Vorfeld der aktuellen olympischen Spiele18 darüber diskutieren, ob eine prinzipielle Legalisierung von Doping sinnvoll wäre19 (es ist möglich, dass eine Legalisierung, ganz praktisch, mehr, nicht weniger Regulierung und Bürokratie nach sich ziehen würde20). Der aktuelle Stand der Dinge in Betreff der Spielregeln ist aber recht eigentlich klar: Zahlreiche (potenziell) leistungssteigernde Substanzen sind verboten, und Sportlerinnen und Sportler haben Anreize, verbotene Substanzen dennoch zu sich zu nehmen.

Komplementärmedizinisch-esoterische Dienstleistungen und Produkte können in dem Anreizsystem des Hochleistungssportes sehr attraktiv sein; attraktiver, als dies für Aussenstehende ohne Bezug zu diesem Anreizsystem unmittelbar nachvollziehbar ist. Komplementärmedizinisch-esoterische Dienstleistungen und Produkte haben nicht selten die Eigenschaft, dass sie recht ausserordentliche Effekte versprechen. Im Kontext von Spitzensport bedeutet dies, dass solche komplementärmedizinisch-esoterischen Dienstleistungen und Produkte interessant sind, welche Leistungssteigerung versprechen21. Es handelt sich also gewissermassen um «legales Doping»: Massnahmen, welche es vermeintlich ermöglichen, die biologischen Grenzen zu überschreiten, und zwar ohne, dass die Gefahr besteht, dafür sanktioniert zu werden.

Fazit: Sport und nicht-wissenschaftliche Medizin sind und bleiben miteinander verflochten

Es mag auf den ersten Bilck wenig bedeutsam anmuten, wenn Sportlerinnen und Sportler sich in komplementärmedizinisch-esoterischen Praktiken üben, in der Hoffnung, dadurch bessere Leistung zu erbringen. Bei genauerer Überlegung sind die möglichen Gründe für die Präsenz von Komplementärmedizin und Esoterik im Spitzensport aber nicht ohne eine gewisse Komplexität und Tiefe, und diese Treiber bedeuten, dass komplementärmedizinisch-esoterische Dienstleistungen und Produkte wohl eine grundsätzliche Nebenerscheinung von Spitzensport ist.

Komplementärmedizin wird meistens im Rahmen der öffentlichen Gesundheitsversorfung diskutiert. Sport ist ein komplett anderer Kontext als öffentliche Gesundheitsversorgung. Entsprechend lassen sich Kritikpunkte und Argumente rund um Komplementärmedizin, wei sie im Kontext der öffentlichen Gesundheitsversorgung diskutiert werden22, bestenfalls teilweise auf den Kontext von Sport übertragen.

Dennoch ist es wünschenswert, dass evidenzbasierte Medizin, bzw. die erkenntnistheoretischen Prinzipien evidenzbasierter Medizin, auch im Kontext von Sport das dominierende Paradigma bleibt (oder ggf. wird). Aus gesellschaftlicher Sicht hat Sport nach wie vor eine starke Signalwirkung und vermittelt positive Werte und Gefühle – hier sollte die Konnotation von Wissenschaft, nicht von Komplementärmedizin und Esoterik mitschwingen.

Dies ist auch im ganz unmittelbaren, eigennützigen Sinn der Sportlerinnen und Sportler selber. Es ist zwar, wie oben in den drei Thesen beschrieben, nachvollziehbar, warum Sportlerinnen und Sportler offen für komplementärmedizinisch-esoterische Massnahmen sind. Aber: Die Wahrscheinlichkeit, dass solche Massnahmen zielführend sind, ist viel geringer als die Wahrscheinlichkeit, dass evidenzbasiert-wissenschaftliche Massnahmen zielführend sind.

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References

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